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„Gendermedizin ist Personalisierung für Anfänger“

Panel „Digital Health und Gender Medicine - Wie neutral kann KI sein?“
Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Männer und Frauen in vielen Bereichen unterschiedliche Therapien benötigen. Dennoch halten sich Standardverfahren hartnäckig und Frauen sind in Studien und Datensätzen bis heute unterrepräsentiert. Wie stehen also die Chancen für KI-Tools ohne Verzerrungen in der Datenbasis?
Darüber diskutierten zwei Gender-Medizinerinnen und eine Entwicklerin im Panel „Digital Health and Gender Medicine - How neutral can KI be?“. Im Grunde gehe es weniger um Neutralität als um Sensibilität dafür, dass Menschen eben nicht gleich sind, betonte Dr. Jana Schmidt, Data Scientist, Bioinformatikerin und Chief Innovation Officer bei Significo, die unter anderem Apps zur Gesundheitsvorsorge entwickelt. Das fange bei hormonellen Unterschieden zwischen Männern und Frauen an und gehe bis hin zu Lebensumständen und psychologischen Faktoren.
„Gendermedizin geht uns alle an“, stellte Prof. Dr. Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité Universitätsmedizin, klar. Gendermedizin bedeute, Geschlechterunterschiede in der gesamten Behandlungskaskade - von der Prävention bis zur Mortalität - zu berücksichtigen. Deshalb beschäftige sie sich seit Jahrzehnten mit der Frage, welche Biases (Verzerrungen) die Medizin prägen. So seien Frauen in Herz-Kreislauf-Studien bis heute nur zu 30 Prozent vertreten. Männer wiederum seien benachteiligt, wenn es um Prävention oder psychische Erkrankungen gehe.
Datenlücken an verschiedensten Stellen
„Uns fehlen an verschiedenen Stellen unterschiedliche Daten“, ergänzte Prof. Dr. Irit Nachtigall, Leiterin der Abteilung Translationale Forschung, Lehre und Kooperation beim Vivantes Netzwerk für Gesundheit. So würden Depressionen bei Männern zu selten diagnostiziert, weil zwei Drittel der Fragebögen von Frauen ausgewertet worden seien. Umgekehrt würden Frauen nicht nur in Studien zu wenig berücksichtigt, sondern auch seltener diagnostiziert. So würden bei ihnen zu einem Drittel weniger Blutkulturen abgenommen. Warum das so ist? Das weiß niemand. Auch nicht, warum Frauen Medikamente in der gleichen Dosierung wie Männer verschrieben bekommen, obwohl sie weniger Alkohol vertragen - das sei nicht logisch.
Auch Gesundheits-Apps hätten oft einen Gender-Bias, berichtet Jana Schmidt. Da Frauen stärker an Prävention interessiert seien, würden viele Apps auf sie als Zielgruppe zugeschnitten. Männer würden von der Tonalität und den Angeboten zu wenig erreicht. Ohnehin sei die Tonalität in den Apps eher einseitig. Befragungen zeigten, dass knapp 40 Prozent der Nutzer den üblichen medizinischen Duktus gut fänden - 60 Prozent wünschten sich aber eher eine lockere Ansprache.
Noch viel Luft nach oben
Sowohl bei der Datenqualität als auch bei der Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen - allen voran Menschen mit Migrationshintergrund - gebe es jedenfalls „noch viel Luft nach oben“, sagte Stadler. Denn eigentlich müssten noch viel mehr Parameter in den medizinischen Daten berücksichtigt werden - soziale Lage etwa, Ethnizität, Sexualität. „Gender ist nur der Anfang und relativ einfach“, so Stadler. „Gendermedizin ist Personalisierung für Anfänger - und bedeutet, die Unterschiedlichkeit von uns allen ernst zu nehmen.“