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Themendossier: Künstliche Intelligenz durchdringt das Gesundheitswesen

Die künstliche Intelligenz (KI) in ihren unterschiedlichen Spielarten wird künftig ein integraler Bestandteil des digitalen Gesundheitswesens sein. Auf allen Stufen der medizinischen Versorgung – von Prävention und Früherkennung über Diagnosehilfe bis zu Therapieplanung und Entscheidungsunterstützung – werden maschinelles Lernen und wissensbasierte Systeme Prozesse unterstützen, den Zugang zu medizinischer Versorgung optimieren und die Qualität verbessern. Damit Deutschland und Europa bei der KI konkurrenzfähig bleiben, müssen Wissenschaft und Industrie Zugang zu den für die KI-Entwicklung nötigen Daten erhalten.

Begriffsklärung

Künstliche Intelligenz oder KI ist ein breiter Begriff, der nicht klar definiert ist und der eine ganze Reihe von Teilgebieten unter sich vereint. Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens steht die so genannte schwache KI im Fokus, die auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme ausgerichtet ist und dabei bestimmte Aspekte menschlichen Denkens simuliert. Dem steht die starke KI gegenüber, die die menschliche Intelligenz imitieren will. Letztere befindet sich derzeit noch außerhalb der technischen Möglichkeiten.

Algorithmen, die KI nutzen, tun dies auf unterschiedliche Weise. Schon seit langem arbeiten einzelne Softwareanbieter im Digital Health Umfeld in bestimmten Kontexten mit wissensbasierten Systemen, die „Intelligenz“ aus Entscheidungsbäumen generieren. Die zweite Basistechnologie ist das ebenfalls schon recht alte Maschinenlernen, das in den letzten Jahren durch immer umfangreichere technische Möglichkeiten in Form des Deep Learnings einen enormen Aufschwung erlebt hat. Eine weitere wichtige Basistechnologie ist die Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing, NLP), die es erlaubt, unstrukturierte Daten für KI-Systeme verfügbar zu machen.

Einsatzszenarien von KI in der Medizin

Das Einsatzspektrum von KI-Systemen in der Medizin ist enorm breit. Es umfasst Anwendungen für Angehörige medizinischer Heilberufe, für Controller und andere Experten in Krankenhaus- und Krankenkassenverwaltung und nicht zuletzt für Patienten, die durch digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) und künftig auch über ihre elektronische Patientenakte (EPA) Zugang zu KI-Algorithmen erhalten werden bzw. bereits heute erhalten. Ein notwendigerweise unvollständiger Überblick über KI-Anwendungen in der Medizin und deren potenziellen Nutzen:

  • Patientennahe diagnostische Anwendungen: KI-Systeme machen medizinisches Wissen für Patientinnen und Patienten besser zugänglich. KI-gestützte Diagnosehilfen wie Ada Health oder Babylon Health können die Aufmerksamkeit für Gesundheitsprobleme schärfen und – zum Beispiel im Kontext seltener Erkrankungen – dazu beitragen, dass Betroffene früher erkannt und entsprechend besser medizinisch versorgt werden. KI kann auch zu einer Optimierung des patientennahen Vitalwerte-Monitorings beitragen. So hat das Unternehmen Valencell eine KI-basierte Technologie entwickelt, die es erlaubt, den Blutdruck über In-Ohr-Kopfhörer manschettenfrei und sehr zuverlässig zu messen.
  •  Patientennahe therapeutische Anwendungen: Auch therapeutische KI-Anwendungen für Patienten werden von vielen Unternehmen vorangetrieben. Ein Beispiel von vielen sind Patienten mit Seh- und Hörbehinderung. Das Unternehmen OrCam, das bereits eine KI-gestützte Brillenkamera für Sehbehinderte anbietet, hat kürzlich eine Prototypanwendung für schwerhörige Menschen vorgestellt, bei der eine Kamera Mundbewegungen von Gesprächspartnern erkennt und KI-gestützt akustische Signale über Bluetooth-Kommunikation mit dem Hörgerät gezielt verstärkt.
  • KI in der medizinischen Forschung: Zahlreiche Anwendungsgebiete gibt es für KI-Algorithmen im Bereich der Arzneimittelentwicklung. Ein aktuelles Beispiel ist die Entdeckung des Antibiotikums Halicin, über die Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology Anfang 2020 in der Fachzeitschrift „Cell“ berichteten. Die Wissenschaftler trainierten einen Algorithmus auf die molekularen Eigenschaften bekannter, gut wirksamer Antibiotika. Danach arbeitete sich der Algorithmus durch eine Substanzdatenbank, um Substanzen mit ähnlichen Eigenschaften zu entdecken. Halicin war nur eine von mehreren, und in mikrobiellen Laboruntersuchungen stellte sie sich als hoch effektiv heraus.
  • Optimierung der radiologischen Bildanalytik: In der Radiologie werden KI-Algorithmen Radiologen künftig vielfältig unterstützen, ohne sie zu ersetzen. Radiologen werden von Routineaufgaben entlastet und können sich mehr jenen Patienten widmen, bei denen menschliche Expertise wirklich gefragt ist. Ein Beispiel für die Richtung, in die es geht, liefert das Universitätsklinikum Essen, wo KI-Algorithmen den Zeitaufwand für eine Lebervolumetrie auf Basis von CT-Daten von 30 auf eine Minute reduziert haben. Auch bei der Ermittlung der Läsionslast bei Multipler Sklerose und bei der Bestimmung des Knochenalters sparen Algorithmen den Essener Radiologen relevant Zeit ein.
  • Leichterer Zugang zu komplizierter Technik: KI-Algorithmen können dazu beitragen, diagnostische Techniken, die Spezial-Knowhow erfordern, breiter zugänglich zu machen. So hat die FDA Anfang des Jahres die KI-gestützte Software Caption Guidance zugelassen, die medizinisches Personal bei der Erstellung von Echokardiographien unterstützt – unter anderem bei der Platzierung und Ausrichtung der Sonde. Sie generiert auch automatisch Bilder bzw. Ultraschallfilme, sobald die Zielregion im Schallkegel sichtbar ist.
  • Entscheidungsunterstützung: Künftig werden klinische Informationssysteme oder Praxis-IT-Systeme den Ärztinnen und Ärzten und/oder den Pflegekräften in immer mehr Situationen KI-Tools anbieten, die sie bei medizinischen oder pflegerischen Entscheidungen unterstützen. Das können Warnungen vor drohenden Verschlechterungen auf Basis von Monitoring- und Labordaten sein, aber auch patientenindividuelle Vorschläge bezüglich der nächsten diagnostischen oder therapeutischen Schritte.

Deutschland und Europa dürfen darf den Anschluss nicht verlieren

Deutschland verfügt über einige der besten Forschungseinrichtungen zu KI weltweit. Doch bei der Übertragung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Grundlagenforschung auf konkrete Anwendungen und kommerzielle Produkte hapert es gewaltig. Zahlen, die der Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg) zusammengetragen hat zeigen, dass es in den USA und in China um Größenordnungen mehr KI-bezogene Patentanmeldungen gibt als in Deutschland oder auch in Europa. Insbesondere China ist in den letzten Jahren zu einer KI-Supermacht geworden.

Die Europäische Union und die deutsche Bundesregierung haben die Gefahr, bei der KI abgehängt zu werden, erkannt und große Programme gestartet, mit denen KI-Anwendungen „made in Europe“ vorangebracht werden sollen. So hat die Bundesregierung Ende 2018 mit der Vorstellung der Nationalen KI-Strategie auf dem Digital-Gipfel in Nürnberg die KI zu einer Top-Priorität der deutschen Wirtschafts- und Forschungspolitik gemacht. Das Gesundheitswesen wurde dabei stets als eine wichtige Zielbranche genannt. Allerdings waren medizinische KI-Anwendungen bei der ersten im Rahmen der KI-Strategie ausgeschütteten Fördertranche deutlich unterrepräsentiert.

Die – akademischen wie kommerziellen – Entwickler medizinischer KI-Anwendungen stehen in Deutschland und Europa vor einer Reihe besonderer Herausforderungen, bei deren Bewältigung sie auf die politischen Entscheidungsträger mitangewiesen sind: „Wir sehen noch deutlichen Regulierungsbedarf beim Thema KI im Gesundheitswesen“, betont der Sprecher der bvitg-Projektgruppe KI und stellvertretende bvitg-Vorsitzende, Andreas Kassner: „Wenn Deutschland ein wichtiger Standort für KI in der Medizin bleiben soll, dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.“

Regulatorische und gesellschaftliche Ansatzpunkte

Eine der zentralen Herausforderungen und ein wichtiger Ansatzpunkt für Optimierung ist die Verfügbarkeit von kuratierten, qualitativ hochwertigen Datensätzen, mit denen KI-Algorithmen insbesondere bei Deep Learning Szenarien trainiert und validiert werden können. „Selbst wer als Wissenschaftler Zugang zu einer großen medizinischen Einrichtung hat, hat bei bestimmten KI-relevanten Fragestellungen große Schwierigkeiten, an geeignete Datensätze zu kommen“, sagt etwa Prof. Roland Eils, Direktor des Zentrums für Digitale Gesundheit am BIH der Charité Berlin.

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Teilweise mangelt es an der nötigen Digitalisierung und Standardisierung der Ausgangsdaten. Hier will derzeit unter anderem die Medizininformatikinitiative mit dem Aufbau von Data Lakes und Datenintegrationszentren für mehr Datenverfügbarkeit sorgen. Ein großes Problem gerade im Hinblick auf kommerzielle medizinische KI-Anwendungen ist aber auch ein übermäßiges Misstrauen in private Unternehmen. Das zeigt sich aktuell an den Plänen der Bundesregierung für ein medizinisches Forschungsdatenzentrum, über das Abrechnungsdaten und – bei Zustimmung der Patienten – Versorgungsdaten für die Forschung zugänglich gemacht werden sollen. Hier sollen Industrieunternehmen außen vor bleiben, was nicht zielführend ist.

Neben der Frage der Datenverfügbarkeit ist der Weg in die Regelversorgung eine weitere offene Flanke bei medizinischen KI-Anwendungen. KI-gestützte IT-Tools, die unmittelbar diagnostische oder therapeutische Funktionen haben, müssen als Medizinprodukte zertifiziert werden. Gemäß neuer Europäischer Medizinprodukteverordnung (MDR) wird dies in der Regel eine Klasse IIb-Zertifizierung sein. Diese Produkte sind in Deutschland nicht durch das Digitale Versorgung Gesetz (DVG) und den dort angelegten Fast-Track-Prozess für die Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) in die Regelversorgung abgedeckt. Hier stellt sich daher die Frage, ob medizinische KI-Anwendungen künftig regelhaft einen Nutzenbewertungsprozess beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) durchlaufen müssen und wenn ja, wie dies zügig und zielführend gewährleistet werden kann.

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